Der Verstand hat ganz eigene Gesetzmäßigkeiten, die uns in bestimmten Hinsichten sehr dienlich sind. Aber. Wir haben ihn radikal erhöht. Und während wir unsere innere Stimme immer mehr durch ihn übertönt haben, hat der Kopf ein Gewicht bekommen, das ihm eigentlich nicht gemäß ist. Der Verstand übernimmt Aufgaben, die er nicht erfüllen kann. Der Verstand beruft sich auf Erfahrung. Er ist rückwärts orientiert, entwirft die Zukunft als logische Weiterentwicklung der Vergangenheit. Er zieht Schlüsse aus dem, was wir erleben. Schlüsse, die oft kurzfristig hilfreich sind, langfristig aber genau das Gegenteil davon bewirken, was uns gut tun, uns fördern und weiter bringen würde. Wir lassen unseren Verstand unsere Gefühle interpretieren. Wir halten diese Interpretationen selbst für Gefühle - und vor allem: halten wir sie für wahr. Um bei der Körperteile-Metapher zu bleiben: Der Kopf unterhält sich mit dem Bauch. Die beiden bestätigen sich in ihren Ängsten und in ihrem Leid, dem Schmerz, der Einsamkeit und dem Verlust. Wir alle haben bereits unzählige schwere, schmerzhafte und schwierige Erfahrungen gemacht, aus denen wir etwas gelernt haben. Auf Grundlage dieser Erfahrungen haben wir, bewusst und vor allem aber auch unbewusst, Entscheidungen getroffen. Ich werde mich nie wieder so verwundbar zeigen. Ich werde es nicht mehr versuchen, weil ich sowieso scheitere. Ich werde anderen nicht vertrauen. Ich werde hart sein, um es der Welt zu zeigen.
Die Signatur unserer Erfahrungen und der Schlussfolgerungen, die wir daraus gezogen haben, haben wir uns eingeprägt. Sie uns aufgeprägt wie einen Stempel. Wir fühlen diese Prägungen wie eine Mauer, die uns einmal geschützt hat. Die Mauer hat dafür gesorgt, dass wir eine Richtschnur hatten, als wir in großer Not waren. Im Laufe der Zeit ist die Mauer angewachsen. Ich bin kein Feind der Mauer. Die Mauer hat eine Funktion, und diese Funktion dürfen wir erkennen und sie hinterfragen. Wir dürfen uns selbst verstehen lernen und das Gefühl der Notwendigkeit dieses Schutzwalls anerkennen. Wir haben uns Jahre, Jahrzehnte innerhalb der Mauer den Dialog zwischen Kopf und Bauch angehört und mit ihm gelebt. Wir haben viel gesehen, gespürt und erfahren. Ich sage nur - dieser Ringelreihen aus Gedanken, Interpretationen, Schlussfolgerungen und Projektionen der Vergangenheit in die Zukunft - der ist kräftezehrend. Anstrengend und ermüdend. Er findet statt, weil wir die Gedanken zu laut werden lassen und die Gefühle zu ernst nehmen. Wir sind so beschäftigt damit, in diesem Tanz zu existieren, dass wir die leise Melodie oft nicht hören. (Und ich meine das nicht kitschig, sondern durchaus konkret.) In unserem Herzen ist Raum für das alles. Für Gedanken, Gefühle, Tanz und Chaos. Für Unruhe und Angst, für Schmerz und Reue, für all die Erfahrungen und Interpretationen. Es geschieht hier etwas, das man fast magisch nennen kann. Ich nenne das Liebe. Oder Wahrheit. Denn für mich gibt es keinen Unterschied zwischen Liebe und Wahrheit. Wenn Du etwas mit Deiner Liebe berührst, wird es sich entweder als das zeigen, was es IST (das bedeutet, dass die Interpretationen abfallen) - oder es zerfällt einfach. Im ersten Fall braucht es zur Heilung eine Erkenntnis. Im zweiten Fall nicht. Das braucht etwas Übung. Es sind andere Gesetzmäßigkeiten, in denen wir uns bewegen, wenn wir anfangen, uns selbst mit anderen Augen zu sehen.